Wild und schön ist Kurdistan - gefährlich nicht!
Wild und schön ist Kurdistan, gefährlich nicht
Von Simon Widmer. Aktualisiert am 19.03.2010
Der von den Kurden autonom verwaltete Nordirak ist von Fortschritt und Hoffnung geprägt. Und er sucht nach Touristen.
Ein Teppichgeschäft am Fusse der Zitadelle in Erbil.
Bild: Keystone
Als ich nachts durch eine belebte Strasse von Dohuk nahe der türkischen Grenze gehe, traue ich meinen Augen nicht: Auf dem Trottoir steht mutterseelenallein ein kleiner Tisch mit US-Dollars und irakischen Dinaren im Wert von Hunderten Franken. Weit und breit niemand, der sich um das Geld kümmert. Erst nach einigen Minuten kommt ein älterer Mann und fragt, ob ich Geld wechseln wolle. Mein Einwand, dass man in meinem Herkunftsland nicht einfach so einen Tisch voller Geld unbewacht lassen könne, erstaunt ihn: «Die Schweiz muss gefährlich sein», sagt er.
Der kurdische Norden des Irak, von den Einheimischen durchwegs Kurdistan genannt, hat nur noch wenig gemein mit dem weiterhin von Gewalt gelähmten Rest des Landes: Anstatt Tote zu begraben und von Anschlägen versehrte Ölleitungen zu reparieren, sind die Kurden damit beschäftigt, Hotels zu bauen, Strassen zu flicken und Wege zu finden, um Touristen in ein Land mit einem katastrophalen Ruf zu locken.
Am gefährlichsten sind Autos
In Dohuk ist es auch spätabends laut, sehr laut. So etwas wie Ladenöffnungszeiten gibt es nicht, und so herrscht bis tief in die Nacht ein reges Treiben an den Marktständen. Wer Ruhe will, muss sich in die Berge nahe der Stadt zurückziehen. Dohuk hat ein jugendliches Flair und die landesweit beste Künstlerszene. Wer entlang einer der beiden Hauptstrassen flaniert, wird allerdings schnell mit den gefährlichsten Zeitgenossen der Stadt Bekanntschaft machen: den Autofahrern. Auf der Strasse gilt das Recht des Stärkeren.
Nirgends zeigt sich der Lauf der Geschichte so schön wie einen Kilometer östlich ausserhalb der Stadt: Wo früher ein Militärstützpunkt stand, befindet sich heute die «Dream City», ein Vergnügungspark inklusive Riesenrad, Videospielen und kurdischen Frauen in den farbenfrohen traditionellen Kleidern.
Touristenfreundlich
Kein Zweifel: Die kurdische Bevölkerung geniesst ihre neue Freiheit – und teilt sie gern mit Ausländern. Mehrmals wurde ich zum Essen eingeladen, mehr als einmal weigerte sich ein Taxifahrer, auch nur einen Dinar für die Fahrt zu verrechnen, sprach dafür aber meiner Familie den Segen aus. Die wenigen Touristen, die den Weg nach Kurdistan finden, werden behandelt wie Könige, sie sind für die Bevölkerung ein Zeichen für die wiedergewonnene Normalität.
Nächstes Reiseziel ist Erbil, eine Stadt mit über einer Million Einwohnern, ungefähr drei Autostunden entfernt. In den Seitengassen ihres Zentrums findet man sich inmitten des Qaysari-Basars wieder, ein Labyrinth an Marktständen, wo seit Jahrhunderten um Brautkleider, Früchte und Bücher gefeilscht wird. Weiteres Sinnbild für das alte Erbil ist die Zitadelle, die sich auf den Ruinen früherer Siedlungen 32 Meter über der Stadt erhebt. Das orientalische Monument sieht aus wie eine von Riesen errichtete Sandburg. Im Innern befinden sich Wohnhäuser aus dem 19. Jahrhundert. Seit 8000 Jahren soll der Wehrhügel bewohnt sein. Die Einwohner behaupten deshalb, dass Erbil die älteste Stadt der Welt sei.
Erbil – das neue Dubai?
Andernorts gleicht die Stadt einer riesigen Baustelle. Wenige Meter neben Schuhputzern und Früchtehändlern entsteht die Nishtiman-Shopping-Mall, ein noch nicht fertig gebauter, riesiger weisser Komplex, in dem 6000 Filialen Platz finden sollen.
Es scheint, als ob die Kurden die verlorene Zeit unter Saddam Hussein kompensieren wollen. «Erbil ist das neue Dubai», sagt Amer Hasan, der als Marketingmanager bei Coca-Cola arbeitet. Seit dem Sturz Saddam Husseins gebe es einen Bauboom, sagt Amer. Auch in Erbil wurde aus einem Gelände, das für Grauen und Schrecken stand, Gutes geschaffen: Im Sami-Rahman-Park, wo früher die Schergen des Diktators ein Gefangenenlager betrieben, finden sich heute junge Menschen, die Pedalo fahren oder flanieren.
Obwohl er gerne in Kurdistan lebt, stören Amer zwei Dinge: Zum einen ist jeder Versuch, ins Ausland zu verreisen, mit hohem bürokratischem Aufwand verbunden. Insbesondere scheint es eine Spezialität der Behörden zu sein, Ausreisegenehmigungen im letzten Moment zu annullieren. Zum anderen ist das Leben der jungen Leute immer noch von traditionellen Verhaltensregeln geprägt. Nirgends wirkt sich dies so stark aus wie in der Liebe: Junge Paare müssen Beziehungen vor der Heirat oft geheim halten. So hat Amer während seiner Studienzeit gewisse Medizinvorlesungen nur besucht, um seiner Angebeteten nahe zu sein.
Ein dunkles Kapitel Geschichte
Sulaymaniyah gilt als die modernste Stadt des kurdischen Irak, was sich in der Kleidung der jungen Leute zeigt, die sich nicht von derjenigen in Europa unterscheidet. Die grösste Sehenswürdigkeit der Stadt ist das Amna-Suraka- Museum. Auf dessen Gelände wurden bis 1991 Tausende Kurden gefangen gehalten und gefoltert. Der grösste Teil der Insassen bleibt «verschwunden». 2003 wurde auf dem Gelände auf Initiative von Hero Khan, der Frau des irakischen Staatspräsidenten Jalal Talabani, ein Museum errichtet. In den meisten Räumlichkeiten finden sich Skulpturen des lokalen Künstlers Kamaran Omer, die das Leben der Gefangenen widerspiegeln. Dazu gehören auch Folterszenen, die nur schwer zu ertragen sind. So wird ein Verhör mit Elektroschocks dargestellt, untermalt von der Tonbandaufnahme eines realen Verhörs.
Der beeindruckendste Teil des Museums ist ein Gang, an dessen Wänden weit über hunderttausend Spiegelsplitter befestigt sind. Jeder Splitter steht für ein Opfer von Saddams «Anfal»-Kampagne. Von 1986 bis 1989 attackierte das irakische Militär unter Saddams Cousin Ali Hassan al-Majid die Kurden mehrmals und setzte dabei auch chemische Waffen ein. Die Angriffe kosteten bis zu 150'000 Menschen das Leben.
Nicht zuletzt durch diese Gräuel ist zu erklären, dass viele Kurden einen eigenen Staat wollen. An den Schulen wird vermehrt Englisch statt Arabisch als Zweitsprache gelehrt, irakische Flaggen sucht man vergebens. In zehn Tagen Kurdistan habe ich nur ein Zeichen dafür gesehen, dass sich die Kurden zum Irak zugehörig fühlen: Ein Teenager ignorierte an einem Marktstand die Poster von westlichen Fussballstars wie Cristiano Ronaldo oder Lionel Messi und kaufte sich stattdessen eines von Nashat Akram, dem Star der irakischen Fussballnationalmannschaft. Dass dieser Araber und nicht Kurde ist, interessiert ihn nicht.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 19.03.2010, 16:29 Uhr