Die Kurden - das grösste staatenlose Volk der Erde
Aus der Zeitschrift "Das weisse Pferd" Ausgabe 24/98
Krisenherde der Erde (11): Die Kurden - das größte staatenlose Volk der Erde
Kurdistan: Teile und herrsche
Auch wenn über sein weiteres Schicksal noch nicht entschieden ist - der kurdische Untergrundchef Öcalan hat durch seine spektakuläre Ausreise nach Italien immerhin erreicht, dass sich die Öffentlichkeit Europas mit ihm und seinem Volk beschäftigt. Die Tatsache, dass ihn niemand gerne vor Gericht stellt, zeigt das Unruhepotenzial, das die Kurden nicht nur in ihrer angestammten Heimat im Nahen Osten darstellen, sondern auch in Europa. Allein in Deutschland leben 500.000 Kurden. Bei einer Auslieferung und Aburteilung Öcalans in Deutschland befürchten die Behörden bürger-kriegsähnliche Auseinandersetzungen zwischen Kurden und Türken.
Mit 25-30 Millionen Menschen sind die Kurden das größte Volk der Erde, das nicht über einen eigenen Staat verfügt. Sie hatten auch nie einen. Über die Hälfte der Kurden, etwa 18 Millionen, leben in der Türkei, wo selbst ihre Sprache unterdrückt wird: Schon der Besitz einer Kassette mit kurdischer Musik kann in den kurdischen Stammlanden im Osten Anato-liens zu Repressalien führen. Kurden leben außerdem im Irak, in Syrien und im Iran.
Kurdische Widerstandskämpfer gibt es in vier Staaten - doch untereinander sind sie sich selten einig. In all diesen Staatn führen sie buchstäblich ein Randgruppendasein - sie leben überall am äußersten Rand des Staatsgebietes, abgedrängt, ver-nachlässigt und misstrauisch beäugt von den Militärs. In der Türkei und im Irak gibt es Offiziersfamilien, in denen Vater, Sohn und Großvater stolz darauf sind, schon in der dritten Generation gegen die Kurden zu kämp-fen.
Denn diese wissen sich zu wehren: Aufstände gegen die Osmanen, Vorläufer der Türken, gab es schon vor Jahrhunderten. Zeitweise konnten einzelne Führer der etwa 100 kurdischen Stämme kleine Fürstentümer errichten, die nur noch nominell dem Osmanenreich unterstanden. Doch dann rückten die Truppen des Sultans wieder vor, es folgten Aufstände, Blutvergießen und Unterdrückung.
Überall ein Dasein am Rande - die Kurden
Nach der Auflösung des Osmanischen Reiches 1918 sah es für wenige Jahre so aus, als ob die Kurden einen eigenen Staat erhalten könnten. Doch die Türkei erstarkte unter ihrem Führer Kemal Pascha (Atatürk) und erzwang neue Verhandlungen. Kurdistan wurde endgültig aufgeteilt. Wohl in keinem Teil der Welt wurde die Devise "Teile und herrsche!" so rigoros durchgesetzt wie in Kurdistan. In der kemalistischen Türkei war kein Platz für andere Völker. Die kulturel-le Identität der Kurden wurde geleugnet, sie wurden einfach als "Bergtür-ken" bezeichnet. Neuerliche Aufstände folgten, schließlich der bewaffnete Terror der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese bekämpfte aber nicht nur die türkische Armee, sondern auch "Abweichler" und "Kollaborateure" im eigenen Volk. Ihre Kriegskasse füllte die marxistische PKK schon bald mit Drogenschmuggel in großem Stil.
3.000 Dörfer zerstört, 30.000 Tote
Die Landbevölkerung geriet in eine ausweglose Lage: Die Armee der Tür-kei zerstörte bei dem Versuch, den Widerstand zu brechen, über 3.000 Dörfer, drei Millionen Menschen flüchteten in die Städte. Insgesamt star-ben in dem seit 25 Jahren neu entflammten schmutzigen Krieg in Tür-kisch-Kurdistan über 30.000 Menschen.
Die türkischen Militärs "gewannen" diesen Krieg zwar zu Beginn dieses Jahres 1998, und die PKK gestand ein, nur noch wenig militärischen Spiel-raum zu haben. Doch das Problem ist damit noch lange nicht gelöst. Auch gemäßigte Kurden wurden durch die Angriffe der türkischen Armee in die Arme der Befürworter von Gewalt getrieben.
Im vergangenen Sommer drohte die Türkei dem Nachbarland Syrien mit militärischem Eingreifen, falls Syrien weiterhin dem PKK-Chef Öcalan Unterschlupf gewähren sollte. Syrien gab nach, und Öcalan musste das Land verlassen.
Wer gibt nach?
Die Regierenden der Türkei denken nach wie vor nicht daran, den Kurden irgendeine Form von Autonomie zu gewähren. Bei der PKK scheint man seit der jüngsten militärischen Niederlage jedoch von der Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat abgerückt zu sein. Die Beispiele Nordirlands und des Baskenlandes zeigen, dass mit Gewalt, Unterdrückung und Gegengewalt jedenfalls kein Konflikt gelöst werden kann. Wann wird man dies auch in der Türkei bzw. bei den Kurden einse-hen?
Die Kurden sind an dieser Situation allerdings nicht nur durch den militärischen Widerstand beteiligt. Ihre Zerstrittenheit ist fast sprichwörtlich. Sie wird durch sprachliche Unterschiede noch verstärkt: Die kurdische Sprache, mit der persischen verwandt und somit indoeuropäisch, kennt drei verschiedene Versionen - Kirmanji, Gorani und Zazayi -, deren Sprecher sich untereinander kaum verstehen können. Außerdem verwenden sie zwei verschiedene Schriften - lateinisch in der Türkei und Syrien, arabisch im Irak und Iran. Religiös gesehen sind zwar die meisten Kurden sunnitische Muslime wie ihre Nachbarn. Es gibt unter den Kurden aber auch eine starke Minderheit von Aleviten, einer anatolisch-islamischen Mischreligion, die in der Türkei in zweifacher Hinsicht benachteiligt werden: als Kurden und als Aleviten.
Es fiel den jeweiligen Machthabern immer leicht, die Kurden gegeneinan-der auszuspielen. Die Chance, im Norden des Iraks unter amerikanischer Protektion eine kurdische Schutzzone selbst zu verwalten, nutzten sie bis heute nicht: Die Kurdenführer Barzani und Talabani bekämpften sich vielmehr gegenseitig. Besonders grotesk war die Situation während des Krieges zwischen dem Irak und dem Iran: Beide Länder unterstützten die Kur-den im Grenzgebiet des jeweils anderen Landes, während sie die im eige-nen Land bekämpften. Haust du meine Kurden, hau’ ich deine Kurden ...
Kurdistan: Wasser und Öl im Überfluss
Aber auch andere Staaten tragen Mitschuld an der Lage der Kurden. So unterdrückten die Briten nach dem ersten Weltkrieg kurdische Aufstände im Irak, um die Kontrolle über die Ölfelder in diesem Gebiet zu behalten. "Ein unabhängiges Kurdistan wäre der einzige Staat in der Region mit Wasser und Öl im Überfluss", stellte Die Woche fest. Diese Ressourcen sind schon seit langem Gegenstand strategischer Erwägungen. Die Amerikaner ließen die Kurden im Irak zweimal (1975 und 1991) fallen, nachdem sie sie zuvor zum Kampf gegen die Regierung aufgestachelt hatten. Auch sie wollten lieber Saddam im Amt halten, als einen kurdischen Staat zu unterstützen.
Auch Deutschland kann seine Hände nicht in Unschuld waschen: Es waren zum großen Teil deutsche Waffen, viele davon Geschenke aus ost-deutschen Beständen, mit denen die türkische Armee kurdische Dörfer zerstörte. Und mit Giftgasgranaten, die mit deutscher Produktionstechnik hergestellt wurden, rottete Saddam Hussein im Nordirak 1988 ein ganzes kurdisches Dorf aus.
Was ist der Grund, dass die Kurden derart benachteiligt sind, obwohl sie länger im Nahen Osten leben als die Türken und die Araber? Wer die Geschichte über lange Zeiträume betrachtet, kann auch hier eine Art Pendelschlag erkennen. "Ein Kurde hat keine Freunde", lautet ein altes Sprichwort, das die kriegerische und stolze Haltung des Bergvolks zum Ausdruck bringt. Folgt man dem Schweizer Historiker Robert Sträuli, so deutet die Silbe kur oder hor auf die früheren kaukasischen Kriegervölker hin, deren Horden vor Jahrtausenden mit ihren Raubzügen auf schnellen Pferden vgl. engl. - horse - andere Völker in Schrecken lat. - horror - versetzten. Der Versammlungsplatz der churritischen Clanführer hieß übrigens curia - ein Wort, das später die Römer und noch später die römische Kirche übernahmen: Kurie. Ein Zufall?
Die Kurden verstanden sich immer schon auf das Kriegshandwerk. Noch in diesem Jahrhundert beteiligten sich Kurden an einem grausamen Völkermord: der Ausrottung der in der Türkei lebenden Armenier während des ersten Weltkrieges. Heute leiden die Kurden unter der Unterdrückung anderer Völker.
Wer den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen und den Krisenherd Kurdistan entschärfen will, der muss den Kurden nicht unbedingt einen eigenen Staat geben - aber er sollte sich für kulturelle Autonomie und politische und wirtschaftliche Gleichberechtigung der Kurden einsetzen. Der Korrespondent der Süddeutschen Zeitung in der Türkei, Wolfgang Koydl, schlug eine deutsche Friedensinitiative vor, die gemäßigte kurdische und türkische Politiker an einen Tisch bringen sollte. Vorher sollte allerdings der PKK-Chef Öcalan einsehen, dass er mit seiner gewalttätigen Vergangenheit einer friedlichen Lösung im Wege steht und im Interesse seines Volkes abtreten, meint der Korrespondent.
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